Big Five? Zwei Giganten!

Wie sollte ein Persönlichkeitstest gestaltet werden, der nur zwischen zwei Haupttypen unterscheidet? Die Graphentheorie ist dabei eine große Hilfe. Und nebenbei erhält man einen klaren Blick auf das Wesen von Konflikt und Kooperation.

Veröffentlicht am 20.4.2024
Zuletzt geändert am 23.4.2024


Sind Sie offen für ein Gedankenexperiment? – Nehmen wir an, dass wir von einer großen Gruppe von Menschen sämtliche Persönlichkeitsmerkmale kennen und wir einen Maßstab haben, um die Ähnlichkeit von Persönlichkeiten anhand dieser Merkmale zu bestimmen. Nehmen wir weiter an, dass sich diese Persönlichkeitsmerkmale empirisch messen und der Ähnlichkeitsmaßstab wissenschaftlich festlegen lassen.

Teile und herrsche

Dann teilen wir diese Menschen so in zwei gleich große Untergruppen auf, dass sich die Persönlichkeiten zwischen beiden nach unserem Maßstab am wenigsten ähneln: Wir partitionieren die Menschen in zwei möglichst gegensätzliche Gruppen. Wir nennen diese Gruppen A und B.

Es ist eine Sache der Natur, dass sich Menschen in zwei solche Gruppen aufteilen lassen. Die Einteilung ist, gegeben die Persönlichkeitsmerkmale und ihr Abstandsmaß, ein mathematischer Automatismus.

Die Big Five gelten als wissenschaftlich belegtes Modell, das Persönlichkeiten nach fünf Dimensionen einordnet. Nimmt man unsere Einteilung nicht mit zwei (A und B), sondern in fünf möglichst verschiedene Gruppen (A, B, C, D, E) vor, so ist davon auszugehen, dass diese fünf Gruppen den Big Five (Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit, Neurotizismus) entsprechen werden.

Es drängt sich die Frage auf, wie unsere beiden Gruppen A und B bezeichnet werden sollten — extrovertiert/introvertiert, autoritär/freiheitlich, linke/rechte Gehirnhälfte, dominant/unterwürfig, rechts/links, egoistisch/altruistisch, …? Eine wissenschaftlich begründete Antwort zu geben ist nicht trivial, aber ist sicherlich von großem allgemeinem Interesse.

Die offenen Fragen enden damit nicht. Wie groß sind etwa die Persönlichkeitsunterschiede zwischen Mitgliedern von A und B im Vergleich zu den Unterschieden innerhalb — oder anders ausgedrückt: Wie stark ist die Kohärenz in und die Gegensätzlichkeit zwischen A und B tatsächlich ausgeprägt?

Vereine und werde geliebt

Es gibt für die Gesamtgruppe, also A und B zusammengenommen, eine übergeordnete Persönlichkeit M (für Mitte, Mehrheit oder Masse), die sich weder in der einen noch der anderen Gruppe verorten lässt, sondern dadurch charakterisiert ist, dass sie im Durchschnitt den meisten Menschen am nächsten steht. Wir führen unser Gedankenexperiment fort:

  • Im ersten Szenario werden persönliche Bindungen abhängig von der eigenen Persönlichkeit eingegangen. Die Zugehörigkeit zu A oder B ist in diesem Szenario reine Abstraktion.
  • Im zweiten Szenario herrscht ein Bewusstsein über die Zugehörigkeit zu A oder B. Wir gehen davon aus, dass sich dies auf den Aufbau von Bindungen auswirkt.

Sowohl A als auch B besitzen ihrerseits eine allgemeine Persönlichkeit M-A und M-B. Was geschieht in diesen beiden Szenarien mit denen, die der allgemeinen Persönlichkeit M näher stehen als M-A oder M-B — wie geht es der Mitte, der Mehrheit, der Masse der Menschen? Welche Rolle spielen die Durchschnittspersönlichkeiten M-A und M-B für die Gruppenmitglieder von A und B; welches Verhältnis haben sie zum Übertypus M?

Graphentheorie, Krieg und Frieden

Dieses Gedankenexperiment war ein spontaner Einfall und ich habe ihn an zwei Abenden in insgesamt weniger als vier Stunden entworfen, auf seine Plausibilität geprüft, niedergeschrieben, nach kritischen Rückmeldungen verfeinert und schließlich veröffentlicht. Psychologie, Politik- und Sozialwissenschaften (bis auf die Referenz zu den Big Five) habe ich ignoriert und stattdessen mit mathematischen Kategorien gearbeitet.

Die Idee der Partitionierung von Gruppen anhand von verschiedenen Merkmalen habe ich aus der Graphentheorie übernommen. Sie ist ein Teilgebiet der Mathematik, das sich mit den Eigenschaften von Netzwerken (Graphen genannt), beschäftigt. Auf einer breiten Datengrundlage ließe sich dieses Modell wissenschaftlich auswerten, verifizieren bzw. falsifizieren und konkretisieren.

Unser duales Modell suggeriert Gegensätze und macht damit Konflikt und Kooperation, Krieg und Frieden zum Thema. Ob wir es wollen oder nicht, dies ist die Realität, mit der alle Menschengruppen konfrontiert werden. Wir können diese Realität nicht ignorieren, sondern müssen sie anerkennen und sollten sie zu einem besseren Verständnis sowohl von Uneinigkeit als auch zur Wiedererlangung von Einigkeit nutzen.

Ich bin überrascht, wie leicht sich ein sinnvolles Grundmodell über Konflikt und Kooperation für große Menschengruppen entwerfen und begründen lässt, wenn man die politik- und sozialwissenschaftlichen Theorien beiseite lässt und stattdessen den Scharnier zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, die Mathematik (und ihre große Schwester, die Philosophie), bemüht.

Elektronische Medien

Es ist davon auszugehen, dass Plattformanbieter für soziale Netzwerke und Medien die Methode der Partitionierung in abgewandelter Form verwenden, um die Interaktionen auf ihren Plattformen anzuregen und den geführten Diskurs zu analysieren und zu steuern. All dies lässt uns im Alltag der elektronischen Medien mit vielen weiteren offenen Fragen zurück, die bei der Grundsatzfrage zur Rezeption der Realität durch Bild und Sprache nicht enden.


Und die Moral von der Geschicht’:
Teilst Du nur, dann herrschst Du nicht.